Faszination Musical

von Dr. Wolfgang Jansen

Das Musical ist die modernste Form des unterhaltenden Musiktheaters. Es wurde in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten entwickelt und gehört seit 1945 zum festen Bestandteil der Spielpläne auch der deutschsprachigen Bühnen. Mit Werken wie Show Boat von Jerome Kern (1927), On Your Toes von Richard Rodgers (1936) oder Knickerbocker Holiday von Kurt Weill (1938) gelang es den Komponisten und Autoren, Schauspiel, Tanz und Gesang dramaturgisch auf das Engste zu verschmelzen. Als „Integrated Musical“ entwickelte die neue Gattung eine Kraft und Attraktivität, die sie zu einem unverzichtbaren Teil des Welttheaters werden ließ.

Insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten entfaltete das Musical eine Dynamik, die zu tiefgreifenden Veränderungen im deutschsprachigen Theaterleben führte. In einem geradezu atemberaubenden Tempo wurde aus einem eher beiläufigen Genre, das man künstlerisch zumeist so wenig ernst nahm wie früher die Operette, die vitalste Theaterform der Gegenwart. Die teilweise sensationellen Laufzeiten der Produktionen übertreffen alle bekannten Erfolge in tausend Jahren Theatergeschichte.

Die Vielfalt der Stile und Erzählweisen ist überwältigend. Es scheint so gut wie keine Stoffe oder Themen zu geben, die nicht von den Autoren und Komponisten aufgegriffen werden, um im Rahmen und mit den ästhetischen Mitteln des unterhaltenden Musiktheaters erzählt zu werden: sei es nun die Schilderung einer fragwürdigen Politikerkarriere wie in Evita von Andrew Lloyd Webber, die Zerstörung von individuellem Glück durch die zeitgeschichtlichen Umstände wie in Cabaret  von John Kander, oder das Leid des jüdischen Volkes in der Diaspora wie in Anatevka von Jerry Bock.

Emotionen und Inhalte sind im Musical aufeinander bezogen. Insbesondere die weiten Möglichkeiten der Musik erlauben es, inhaltlich prägnante Akzente zu setzen. So stellt das Genre jeden Abend aufs Neue seine faszinierenden Fähigkeiten unter Beweis, den Zuschauer durch die großen und kleinen Gefühle zu leiten, ihn zum Lachen und Weinen zu bringen, ihm die wichtigen Dinge seines Alltags zu zeigen und in den weiten Raum der existenziellen Fragen zu führen: Kunst im besten Sinne des Wortes.